
Antigone ist frei. Sie gehorcht keinen Gesetzen, sondern folgt ihrer eigenen Intuition. Sie bricht etablierte soziale Normen und erschüttert Rollenbilder – zum Beispiel die Rolle der Frau. Die Strafe dafür ist ihr Tod.
Steckbrief mit Butler
Wenn wir einen Steckbrief über die Mythengestalt Antigone ausfüllen müssten, wären einige Punkte sehr klar:
- Vater: Ödipus;
- Mutter: Iokaste.
- Geschwister: Ödipus, Ismene, Eteokles und Polyneikes.
- Geschlecht: Weiblich
Aber Moment! Wie weiblich ist Antigone eigentlich? Während Autoren wie Lacan die Mythengestalt vor allem auf ihre weibliche Familienrolle – Tochter, Schwester – reduzieren, sieht eine andere bekannte Autorin das ganz anders: Judith Butler argumentiert, dass Antigone die Geschlechtergrenzen sprengt.
Das Gesetz des Mannes
Hegel hat Antigone dafür gepriesen , dass sie neben dem menschengemachten Gesetz im Staat auch ein höheres Gesetz anerkannte: ihr eigenes Gewissen. Judith Butler greift diesen Gedanken auf und verschärft ihn. Antigone setzte sich nicht über das menschengemachte Gesetz hinweg, sondern das mann-gemachte Gesetz. Sie gewinnt im Laufe des Stückes eine ungeheure Macht und Gewalt – das drückt sich in ihrer immer stärkeren Wortgewandtheit aus. Sie setzt sich gleichermaßen über den Mann – Kreon – als auch die männergemachten Normen hinweg. Damit entmächtigt – Butler schreibt süffisant „entmannt“ – sie den König.
Der Souverän
Aber dessen nicht genug. Antigones Widerstand richtet sich nicht nur gegen das spezifische Gesetz, dass es ihr verbietet ihren geliebten Bruder zu beerdigen. Ihr Widerstand richtet sich grundsätzlich gegen die patriarchale Ordnung, die ihr einen Platz am Ende der Nahrungskette zuweist.
Antigone schwingt sich herauf zu ihrem eigenen Souverän und wird ein autonomes Wesen – autonom ist hier wörtlich zu verstehen: Das Wort stammt aus dem Griechischen von autos (selbst) und nomos (Gesetz) und besagt die Fähigkeit, sich selbst Gesetze zu geben. Antigone befreit sich von den Fesseln der etablierten Ordnung und gibt sich ab sofort selbst Gesetze.
Für Butler bedeutet das unweigerlich auch: Antigone sprengt ihre eigene Geschlechterzugehörigkeit. Sie ist keine Frau im traditionellen Sinne – und für Butler bedeutet das: sie ist schlichtweg keine Frau.
Dass diese Freiheit in den Tod führt, kritisiert Butler, weil es „einmal mehr Gelegenheit […] bietet, diese Kontingenz als unwandelbare Notwendigkeit darzustellen.“ (Judith Butler: Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, übersetzt von Reiner Ansén, Suhrkamp, 2001, S.20).
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