Präambel: Weihnachten ist grundsätzlich das Fest der Liebe. Spezifischer: Weihnachten ist das Fest der familiären Liebe. An Weihnachten verwandelt sich die familiäre Zweisamkeit von Maria und Joseph, in eine familiäre Dreisamkeit: Ein Kind wird geboren und die Familie wird heilig. Aber was ist die Heiligkeit der Familie im antiken Griechenland? Ein Paradebeispiel ist Antigone. In den nächsten Wochen lernen wir ihre Geschichte kennen. Heute: Teil 1: Das Grundsätzliche.


Wir wissen nicht, wie alt Antigone war, als sie von ihrem Onkle eingemauert wurde, um zu verhungern. Wahrscheinlich war sie eine junge Frau. Sie war verlobt. Sie war gesund, sie hatte königliches Blut. Warum musste Antigone also sterben?

Der Fluch

Die Geschichte von Antigone ist eingeflochten in das größte Familiendrama des antiken Griechenlandes: Viele, viele Jahre vor ihrer Geburt, hat ihr Urahne eine Schuld auf sich geladen und wurde verflucht. Dieser Fluch setzt sich über die Generationen fort. Antigones Großvater wird von seinem eigenen Sohn ermordet. Antigones Vater heiratet seine eigene Mutter. Antigones Brüder verfallen dem Wahnsinn. Und Antigone? Auch sie ist verflucht und muss unweigerlich zugrunde gehen. Doch sie entscheidet sich für ihr Schicksal: Darin liegt die große Tragik dieser jungen Frau: Antigone muss nicht sterben, sondern sie entscheidet sich dafür, gewissenhaft zu handeln und die Konsequenzen dafür zu tragen.

Die Tragödie

Antigone ist eine Prinzessin. Sie ist eng verwoben mit dem Königsthron von Theben: Ihr Onkel Kreon ist der König und sie ist verlobt mit seinem Sohn, so dass sie eines Tages Königin werden soll. Antigone ist also auf dem Höhepunkt der politischen Macht – aber es hilft nichts: Angesichts der Gesetze im Staat ist sie hilflos. Und das kommt so:

Antigones Bruder hat Verrat begannen. Nun liegt sein Leichnam vor den Stadtmauern, als Mahnmal an alle, die es wagen sollten Theben anzugreifen. Antigone ist hin- und hergerissen: Sie verdammt die ruchlose Tat ihres Bruders. Nichtsdestotrotz ist er ihr Bruder und sie liebt ihn. Sie möchte, dass er bestattet wird, obwohl die Gesetze es verbieten.

Antigone bricht das Gesetz des Menschen – das Gesetz von König Kreon – und befolgt ihr Gewissen. Sie beruft sich auf die Götter: Das himmlische Gesetz, das Gesetz der Familie und Familienliebe, sei stärker als jedes irdische Gesetz. Als Strafe für ihr Verbrechen wird Antigone in eine Grabkammer eingemauert, um dort zu sterben.

Die Tragödie wurde zahlreich rezipiert. Das Dilemma der Antigone, ebenso wie ihre erbarmungslose Konsequenz, berühren uns bis heute. Einer, der das Stück besonders gelobt hat, ist Philosoph Hegel. Er beschreibt die Tragödie Antigone als „das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk.“ (Hegel, Werke (in 20 Bänden), Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, Suhrkamp, 1970, S. 550).

Ein Leben

Antigone trete, so Hegel, als Individuum in ein „lebendiges Handeln“. Sie ist nicht von sozialen Normen geformt, von Klischeevorstellungen oder Rollenbildern. Sie ist ein Individuum, welches sich bewusst dafür entscheidet, auf ihr eigenes Gewissen zu hören – sonst nichts. Dafür ist sie bereit zu sterben – und zu leben. Dies ist Hegel besonders wichtig: Antigone entscheidet sich nicht für den Tod, sondern für das Leben: Ihr Leben, ihr Gewissen, ihr Handeln. Der Tod ist nur eine Konsequenz dieser Entscheidung, den sie bereit ist zu ertragen.

Wir erleben oft Politiker*innen, die sich auf ihr Gewissen berufen und behaupten, einem höheren Gesetz zu gehorchen. Christian Lindners Satz „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“ von 2017 war ein solcher Versuch. Olaf Scholz Rede zum Ampel-Aus 2024 ebenfalls: „Ein solches Verhalten will ich unserem Land nicht länger zumuten.“ Dennoch würde ich bestreiten, dass sie damit in die Fußstapfen von Antigone treten. Antigone hat sich von jedweder machtpolitischen Klüngelei gelöst. Sie bestattet ihren Bruder nicht, um König Kreon in seiner Position zu schwächen. Sie hat keinerlei Hintergedanken und schert sich nicht um die Folgen ihrer Handlung. Die Handlung selbst erscheint ihr richtig. Politiker*innen hingegen haben Hintergedanken, im Fokus ihrer Handlungen steht nicht die Handlung selbst, sondern das danach.

Die Ambivalenz des Menschen

Ein weiterer Punkt, in dem Antigone sich hervortut, ist ihre eigene Ambivalenz. Sie ist selbst Prinzessin und vertraut mit machtpolitischen Kalkülen. Sie weiß, dass Kreon ihren Bruder nicht bestatten kann: Es würde das Volk aufbringen. Ja, sie weiß das nicht nur, sie versteht es sogar. Ihre Entscheidung ist keine leichte. Theben ist ihr Land, die Königsfamilie ist ihre Familie, Kreon ist ihr Onkel. Die Entscheidung dagegen ist eine Entscheidung gegen sich selbst. In Hegels Worten: „Sie werden an dem selber ergriffen und gebrochen, was zum Kreise ihres eigenen Daseins gehört.“ Antigones Entscheidung ist also radikal, nicht nur weil sie radikale Konsequenzen zur Folge hat, sondern auch, weil es eine Entscheidung gegen ihre eigene Rolle als Königstochter, Verlobte, Nichte und Frau ist. Sie bricht mit sich selbst, um ihren Bruder zu bestatten.

Hier wird die unerträgliche Ambivalenz des menschlichen Daseins deutlich.