
Zeus hat der Prinzessin Marpessa die Wahl geschenkt: Sie durfte sich aussuchen, welchen Mann sie heiraten will und damit über ihre eigene Zukunft entscheiden. Auch wir haben die Wahl: Diesen Sonntag wählen die Franzosen ein neues Parlament. Nächsten Donnerstag wird das britische Unterhaus gewählt. Die US-Wahlen im November werfen bereits ihre Schatten voraus, ebenso wie die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Was können wir von Marpessa lernen?
Das einzige Kind
Marpessa war das einzige Kind des Flussgottes Euenos. Der Vater liebte seine Tochter innig und behütete sie sorgfältig. Marpessa wuchs zu einer wunderschönen Prinzessin heran und ehe sich ihr Vater versehen konnte, war sie umringt von Freiern. Zwei Männer, die um ihre Hand warben, stachen besonders hervor: Der Gott Apollon und der Held Idas. Euenos gefielen beide nicht. Er wollte seine geliebte Tochter nicht fortgeben und lehnte deshalb jedes Heiratsangebot ab.
Doch Idas, der tollkühne Held, brach in den Palast des Flussgottes ein und raubte die schöne Prinzessin im Schutz der Dunkelheit. Euenos wurde von den Schreien seiner Tochter aus dem Schlaf gerissen. Sofort eilte er in ihr Zimmer, doch es war leer. Am Horizont verschwand Idas, mit der schönen Marpessa in seinen Armen. Der Vater eilte zu seinen Pferden, bestieg den Schlachtwagen und verfolgte den Helden atemlos. Die Schreie seiner geliebten Tochter wiesen ihm den Weg in der Nacht.

Aber Idas war schneller. Seine Pferde waren ein Geschenk Poseidons und wie Wellen im stürmenden Meer galoppierten sie brausend davon. Der Flussgott konnte sie nicht einholen. Er hörte, wie die Schreie seiner Tochter langsam verklangen, bis sie von der schrecklichen Dunkelheit verschluckt waren. Euenos Herz war gebrochen. Des Lebens überdrüssig stürzte sich der Flussgott in einen Fluss und ertrank. Der Fluss wurde nach ihm benannt und ist heute als Evinos in Mittelgriechenland bekannt.
Der Kampf um Marpessa
Erst mit der Morgendämmerung zügelte Idas seine Pferde. Er hob die besinnungslose Marpessa aus dem Wagen und bettete sie am Ufer eines Baches ins Gras. Dann tränkte er die göttlichen Tiere.
Im Licht der aufgehenden Sonne sah Marpessa besonders lieblich aus. Ihre Augen flatterten, ihre zarten Glieder rührten sich, und als die Sonnenstrahlen über die Baumzipfel ragten und das Licht ihr golden ins Gesicht schien, öffnete sie die Augen. Ihr wachsamer Blick traf Idas, den strahlenden Helden, der sich bescheiden um die Pferde kümmerte.
In diesem Augenblick, da Marpessa schön wie eine Göttin war, erschien Apollon. Auch er hatte um Marpessa geworben und war von ihrem Vater abgewiesen worden. Nun, da Euenos tot war, wollte er sein göttliches Vorrecht auf Marpessa einfordern und sie zur Frau nehmen.
Idas, der seine geraubte Prinzessin nicht aus den Augen gelassen hatte, sah die gefährliche Erscheinung sofort. Er packte seine Waffen und stürmte auf Apollon zu. Weil der Gott in den Anblick der schönen Marpessa versunken war, sah er den Angreifer nicht kommen. Idas nutzte den Augenblick der Überraschung und entwaffnete den Gott. So standen sie sich gegenüber: Der tapfere Held, bewaffnet mit einem göttlichen Bogen, und der waffenlose, aber göttliche Apollon. Marpessa starrte atemlos auf die beiden prachtvollen Männer, die bis zum Tode um sie kämpfen wollten.
Marpessa hat die Wahl
Doch es kam anders. Zeus hatte das Schauspiel vom Olymp aus beobachtet und beschloss, einzugreifen. Er mochte den tollkühnen Helden Idas ebenso gerne wie seinen Sohn Apollon. Keiner von beiden sollte durch die Hand des anderen sterben.
Der Göttervater tratals Lichtgestalt zwischen die Kämpfer. Doch er wendete seine donnernde Stimme weder an Apollon, noch an Idas, sondern richtete sie an die die erstaunte Marpessa. „Du hast die Wahl.“ Sagte er zu dem Mädchen und meinte damit: Sie solle sich einen der beiden Freier zum Gatten wählen. Das Schicksal der Männer lag in ihrer Hand.
Marpessa blickte hin und her zwischen dem Gott und dem Helden. Mit Apollon, so mutmaßte Marpessa, wäre der Augenblick wunderschön, doch in einer nicht allzu fernen Zukunft würde der Gott ihrer überdrüssig werden und sie verlassen. Idas hingegen war ein Mensch und sie würden eine gemeinsame Zukunft haben – gemeinsam alt werden und sterben.
Schließlich erhob sie sich elegant, richtete den Blick auf Zeus und bedankte sich für die Freiheit und Macht, die er ihr geschenkt hat. Dann ging sie zu Idas. Marpessa entschied sich für den Sterblichen und damit für eine glückliche Zukunft.
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