Dies ist der dritte Teil der Geschichte des Wolkenkindes Nephele: Die Gewalt, die sie in einen Körper presste (Teil 1). Die Liebe, die sie an diesen Körper fesselte (Teil 2). Und schließlich Nephele selbst, die sich befreite (Teil 3).

Sehnsucht

Nephele hatte mehr, als sich eine Frau wünschen konnte. Sie war das Spiegelbild Heras, eine Königin und hatte zwei gesunde Kinder, die sie von Herzen liebte. Trotzdem: Nephele war nicht glücklich.

Mit der aufgehenden Sonne erhob sie sich gleichermaßen, schwebte ans Fenster und blickte gen Osten: Am Horizont pinselte die erstarkende Sonne eine Farbenpracht in den Himmel, die sich weiter erstreckte als das menschliche Auge fassen konnte. Es war still um diese Zeit. Nephele streckte ihre Hand aus dem Fenster, versuchte den Horizont zu fassen und an sich zu ziehen. Doch ihre zartgliedrigen Finger griffen ins Leere. Die Luft zerrinn ihr zwischen den Fingern. Der Himmel war zu weich für ihre festen Konturen.

Einsamkeit

Nephele war selten allein und auch dieser Moment des Morgens verging schnell. Ihre Dienerinnen strömten ins Zimmer, kämmten ihr schwarzes Haar, umrahmten ihre Kuhaugen mit Asche und kleideten sie an. Sie wichen nicht von ihrer Seite, bis sie am Ende eines ereignislosen Tages im Bett versank.

Obwohl Nephele ständig von Menschen umgeben war, fühlte sie sich einsam. Denn die Menschen fand sie merkwürdig. Sie wunderte sich über ihre Sorgen und ihre Art, sich so plump über den Boden zu bewegen. Sie wunderte sich über ihre Worte, die ihr unglaublich kompliziert erschienen und zugleich nichts aussagten. Es war, als hätten die Menschen tausend Worte für den Himmel und wüssten trotzdem nicht, was der Himmel war.

Chrysomeles

Nephele hatte nur einen Freund: Chrysomeles. Er lebte auf dem Feld vor dem Palast und fristete dort ein Philosophendasein. Bei Tag und Nacht, bei Regen und Sonnenschein blieb er draußen, hing seinen Gedanken nach und kaute geruhsam das frische, saftige Gras. Chrysomeles und Nephele einte die Liebe zur Weite. Der Widder mit dem goldenen Fell kannte den Himmel gut, denn er konnte auf Wolken traben. Chrysomeles und Nephele sprachen nicht miteinander, aber sie verstanden einander.

Freiheit

Eines Sonnenaufgangs ertrug Nephele es nicht mehr. Wie an jedem Morgen streckte sie ihre Hand aus dem Fenster und griff in den Himmel. Doch an diesem Morgen war es nicht genug. Sie kletterte auf den Fenstersims. Einen Moment hockte sie dort und blickte auf den flammenden Horizont. Dann ließ sie sich fallen. Ihre Gedanken stoben auseinander. Sie spürte, wie sie weich und weicher wurde. Ihr Körper zerflatterte, sie löste sich auf und vereinigte sich mit dem Himmel, den sie so lange ersehnt hatte. Nephele wurde wieder Wolke. Sie sank herab zu Chrysomeles, kitzelte dem schnaubenden Widder an der Nase und stob dann davon – zum Horizont.


Was mit Nepheles Kindern Phrixos und Helle, sowie ihrem Freund Chrysomeles geschah, lest ihr hier.