
Dies ist der zweite Teil der Geschichte des Wolkenkindes Nephele: Die Gewalt, die sie in einen Körper presste (Teil 1). Die Liebe, die sie an diesen Körper fesselte (Teil 2). Und Nephele selbst, die sich befreite (Teil 3).
Heras Ebenbild
Die fleischgewordene Wolke Nephele durchwanderte den Olymp. Sie verweilte nirgends, sondern zog von Wolke zu Wolke, von Palast zu Palast. Es war nicht so, dass sie die göttlichen Gelage und die Gesellschaft bewusst mied. Doch es drängte sie stets fort. Sie suchte etwas und diese Suche trieb sie zur Rastlosigkeit.
Es dauert nicht lang, bis Hera davon erfuhr und Nephele zu sich beorderte. Sie betrachtete das Wolkenkind: Obwohl Nephele ihr Ebenbild war, glich sie der Göttin nicht. Heras pechschwarzes Haar floss in prachtvollen Locken sorgfältig arrangiert über ihre Schultern. Nepheles Haar war verfilzt und glanzlos. Heras kuhartige Augen blickten wachsam, Nephele starrte stumpf ins Leere. Während Hera über und über mit Gold beschmückt war, trug Nephele Lumpen. Und während Heras aufrechter Stand stolz offenbarte, ging Nephele gebückt, mit krummen Rücken und gesenktem Haupt. Angewidert blickte Hera auf ihr Ebenbild.

Den Schrecken bannen
Obwohl Nephele zerstört aussah, erkannte man in ihr die Gestalt Heras. Die Göttin war erschüttert über dieses Spiegelbild. Sie beschloss, sich Nepheles zu entledigen, um sich von dieser schrecklichen Vision ihrer selbst zu befreien. Sie befahl Nephele, den Olymp zu verlassen und auf die Erde zu kehren. Dort, so lautete der Befehl, sollte sie Athamas heiraten.
Athamas herrschte über das weitläufige Land Boiotien, das bekannt war für seine prächtigen Rinderherden und seine ungebildeten Bürger. Er nahm Nephele dankbar als Frau, denn schließlich war sie das Ebenbild der Göttin Hera. So war es also beschlossene Sache – und wieder fügte sich Nephele in ihr Schicksal, unglaubwürdig darüber, dass ihr dies wirklich widerfuhr.
Im Schein der Hochzeit
Zur Hochzeit wurde das Wolkenkind aufgehübscht. Sie wurde gewaschen, gekämmt und in wunderschöne Stoffe gekleidet. Sie wurde mit Gold behängt und mit bunten Farben angepinselt. Doch all der Protz und Schmuck vermochten nicht zu verbergen, dass Nephele eine seichte Gestalt war: Ihr Blick entzog sich, ihre Haut war blass und beinahe durchsichtig. Sie sprach leise und mit einem überraschten Ton in der Stimme, als könnte sie selbst kaum glauben, dass Worte aus ihrem Mund rieselten.
Athamos schwängerte Nephele und sie gebar zwei Kinder, zuerst den Jungen Phrixos, und dann das Mädchen Helle. Als sie das Leben ihrer Kinder in sich wachsen spürte, erkannte sie darin zum ersten Mal das menschliche Fleisch, das sie formte, als ihren eigenen Leib. Obwohl sie keine tiefen Gefühle für ihren Gatten Athamos hegte, liebte sie ihre Kinder von ganzem Herzen. Es war diese Liebe, die das Wolkenkind in einen Menschen presste.
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