Idomeneus war König von Kreta. Er regierte 150 Jahre nachdem Zeus und Europa sich auf Kreta niedergelassen hatten und hier das Geschlecht der Kreter begründeten.

Als der trojanische Krieg ausbrach, schloss er sich den Griechen an und zog mit 80 Schiffen in die Schlacht. Der König war ein tapferer Krieger und bewies sich in dem zehn Jahre währenden Krieg als Held.
Währenddessen tobte in seinem Königreich der Bürgerkrieg: Die Kreter rebellierten und strebten nach Macht. Zu lange war der König fort, und einige reiche Bürger machten ihm sein Königreich streitbar. Sein Erbe, Idamantes, war noch ein Baby und konnte den Thron nicht in Anspruch nehmen.

Ein schrecklicher Sturm

Umso eiliger hatte es Idomeneus, nach gewonnener Schlacht endlich wieder heimzukehren. Doch auf dem Weg nach Kreta erfasste die Flotte ein schrecklicher Sturm:

Der Himmel über ihnen zog sich pechschwarz zusammen. Obwohl es mitten am Tage war, wurde es finster wie in der Nacht. Der Wind wurde immer wütender, peitschte die 80 Schiffe über das Meer und türme die Wellen zu Bergen auf. Blitze prasselten auf sie nieder und Hagelschläge zerrissen die Segel.

Der König fürchtete um sein Leben und das Leben seiner Krieger. Verzweifelt rief er den Gott des Meeres, Poseidon, an und flehte um Gnade. Er streckte die Arme dem Himmel entgegen und betete, ihn – den Urenkeln des Göttervaters Zeus – zu verschonen!

Doch Poseidon kannte kein Erbarmen. Die Wellen wuchsen zu einer schrecklichen Urgewalt heran. Sie schleuderten die Schiffe wie Wattebäusche durcheinander. Ein Schiff nach dem anderen zerbrach unter ihren schrecklichen Schlägen und versank. Das nasse, dunkle Grab des Meeres zog die Krieger in seinen Abgrund. Schließlich war nur noch ein Schiff, das des Königs, Königs übrig. Doch es gab keinen Hoffnungsschimmer – der Zorn des Meeres wuchs noch weiter!

Der letzte Schwur

Deshalb griff der König zu einem letzten, verzweifelten Schwur. Er versprach, von schrecklicher Todesangst erfüllt, einen Menschen zu opfern – sollte Poseidon ihm das Leben schenken. Der erste Mensch, den sein Blick träfe, sobald er Fuß auf die heimatliche Insel setzte, wollte Idomeneus den Göttern opfern.

Gelockt von diesem Versprechen, besänftigte Poseidon seine schäumenden Wellen. Er rief den Sturm zurück, vertrieb die Wolken und ehe sich die Krieger versehen konnten, lachte ihnen ein blauer Himmel entgegen.

Nur Idomeneues schloss sich dem Freudentaumel nicht an. Er dachte an den schrecklichen Schwur, den er getan hatte. Voll Bangen erwartete er nun die Heimkehr. Wen würde sein vergifteter Blick treffen?

Der tödliche Blick

Am Hafen erwarteten die Kreter ihren König und bejubelten ihn. Er winkte von Bord aus, wagte es aber nicht den Blick zu heben. Dann legte das Schiff an und die Planke wurde ausgefahren. Noch immer senkte der König den Blick. Er hatte sich geschworen, die Augen auf den Boden zu heften und niemanden anzusehen. So hoffte er seinem schrecklichen Schwur zu entgehen. Doch er irrte sich, denn grausam sind die griechischen Götter.

Zwischen all den Füßen, auf die Idomeneus wie gebannt starrte, bahnte sich ein Knabe seinen Weg hindurch. Kaum 10 Jahre alt war das Kind und von kleinem Wuchs. So schlüpfte es zwischen die Beine hindurch und kam mit ausgestreckten Armen auf den König zugelaufen. Mit einem Freudenruf begrüßte das Kind den König: „Vater!“

Idomeneus erstarrte – zu spät erkannte er seinen eigenen Sohn zwischen den Beinen auf ihn zu eilen – zu spät hob er seine Augen gen Himmel: Er hatte das Kind angesehen und damit dem Verderben Preis gegeben!

Das Ende der Geschichte

Es sind drei Varianten überliefert, wie die Geschichte des Königs Idomeneus in der griechischen Mythologie ausgeht:

  1. Idomeneues opfert seinen Sohn. Doch die bereits aufrührerischen Kreter empfinden den Kindsmord als Frevel und vertreiben den König von ihrer Insel. Das Schicksal Kretas ist damit besiegelt: Die einst so prachtvolle Insel versinkt im Elend. Es sitzt kein Erbe Zeus‘ mehr auf dem Thron, und die Götter suchen Kreta nun ebenso Heim, wie alle übrigen Inseln und Ländereien der Welt.
  2. Idomeneus kann seinen eigenen Sohn nicht umbringen. Stattdessen versteckt er das Kind, um es vor dem schrecklichen Tod zu bewahren. Doch Poseidon weiß um den Betrug und sendet hierauf die Pest, um Idomeneus für seinen Götterfrevel zu bestrafen. Die Pest wütet so lange auf Kreta, bis das Volk den König in die Verbannung schickt. Dann brechen mildere Zeiten an. Dennoch ist die ruhmreiche Ära Kretas hiermit zu Ende.
  3. Idomeneus fleht zu allen Göttern, ruft seinen Urvater Zeus an und bittet um Erbarmen. Sie mögen Gnade mit ihm haben und ihn nicht zwingen, seinen Sohn zu opfern!
    Poseidon hört das Flehen des Königs und lässt schließlich von Idomeneus ab. Der König und sein Sohn bleiben verschont. Idomeneus schlichtet den Bürgerkrieg im Land und regiert gerecht bis zu seinem Lebensende.