Die Geburt des Minotaurus ist eine der absurdesten Geschichten in der griechischen Mythologie. Sie ist Sinnbild für die schlechte Stellung der Frau, für das enge Zusammenleben mit Tieren und die freie Liebe. In Kreta können wir dieser Geschichte nachvollziehen, denn hier wurde das Monster gezeugt, geboren, eingesperrt und getötet.

König von Kreta

Minos war eine prächtige Gestalt: Er wurde unter einem Pappelbaum von Zeus und Europa gezeugt, wuchs zu einem starken Burschen heran und beanspruchte den Thron über die schöne Insel Kreta. Aber seine Legitimation wurde angezweifelt. Bisher war Kreta unregiert, wild und frei. Warum sollten die Kretaner Minos als König anerkennen?

Der Halbgott bat seinen Onkel Poseidon deshalb um ein Zeichen. Poseidon solle ihm einen Stier schicken – ein so prächtiges Tier, dass es nur von den Göttern stammen könne. Das Zeichen sollte beweisen, dass Minos über göttliche Legitimation verfügte. Als Gegenleistung versprach Minos, den Stier anschließend zu opfern.

Poseidon ließ einen weißen Stier aus dem Wasser emporsteigen. Ein Tier, so prächtig, wie es nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. So erkannten die Kretaner, dass Minos vom göttlichen Blut war und krönten ihn zu ihrem König.

Er baut Mist, Sie wird bestraft

Aber Minos war so hingerissen von dem prächtigen Stier, dass er ihn nicht opfern wollte. Stattdessen schlachtete er ein anderes Tier und nahm den prächtigen weißen Stier in seine Herde auf. Aber natürlich durchschaute Poseidon den Betrug und rächte sich an Minos: Der Gott des Meeres verfluchte Minos‘ Frau, die Königin von Kreta, Pasiphae, so dass sie sich unsterblich in den Stier verliebte.

Parisphae musste also Minos Betrug ausbaden: Sie war von Sehnsucht nach dem Stier erfüllt. Tag und Nacht verbrachte sie auf dem Feld, um bei ihm zu sein. Aber sie konnte sich dem gefährlichen Tier nicht nähern und ihre Sehnsucht blieb unerfüllt, ihre Liebe unerwidert.

Skurrile Erfinderkunst

In ihrem Schmerz wandte sich Parisphae an den schlausten Mann auf Kreta: Den Erfinder Daedalus. Dieser arbeitete als Ingenieur für Minos und war bekannt für seine kreativen Lösungsansätze.

Als Parisphae ihm ihr Leid schilderte, baute Daedalus eine Stierkuh aus Holz. In dieses Gestell konnte Parisphae hineinkriechen. Die holzerne Stierkuh wurde aufs Feld gekarrt, wo der weiße Stier gerade graste. Parisphae hockte im Gestell, spreizte ihre Beine und empfing den Stier, der die Holzkuh begattete. So konnte die Königin ihre Lust befriedigen.

Parisphae wurde schwanger. Neun Monate lang machte sie dem König weis, dass es sein Kind sei. Doch als sie gebar, gab es keinen Zweifel mehr: Das Kind war ein Mischwesen aus Mensch uns Stier, ein menschenfressendes Monstrum. Das war die Geburt des Minotaurus.


Infobox
Der Palast von Minos lässt sich heute noch bewundern: In Knossos, ca. eine halbe Stunde entfernt von Heraklion, wird Geschichte zum Leben erweckt. Der Touri-Hot-Spot inszeniert den prächtigen Palast des übermütigen Königs.

Aber nicht alles, was es hier zu bestaunen gibt, ist auch archäologisch korrekt. Die Wandbemalungen beispielsweise stammen von Künstler*innen aus der Gegenwart, die ohne historisches Wissen drauf lospinselten. Was wir in Knosses bestaunen dürfen, ist ein archäologisches Märchenland: Eindrucksvoll, aber nicht notwendigerweise authentisch.