In der antiken Stadt Gortyn auf Kreta gibt es eine besondere Platane: Sie ist immergrün und unter ihrem Blätterdach haben Zeus und Europa drei Söhne gezeugt – es ist die Geburtsstunde unseres Kontinents.

Zeus und Europa

Die Sage ist alt: Schon in der Illias erfahren wir vom Raub der Prinzessin Europa. Sie war eine phönizische Königstocher, jung und schön. Als Europa eines Nachmittags mit ihren Freundinnen am Strand spielte, kam eine Rinderherde herangetrabt. Unter ihnen war auch ein prächtiger weißer Stier. Die Mädchen waren fasziniert von dem schönen Tier und näherten sich vorsichtig. Der Stier prustete sie aufmunternd an, und während die anderen Rinder davon rannten, blieb der weiße Stier stehen. Europa fuhr ihm durch das samtig-weiche Haar und der Stier schnaubte zufrieden. Mit seinen großen Augen schaute er die Königstocher ruhig an. Die junge Prinzessin schwang sich übermütig auf seinen Rücken. Aber ehe sie sich versah, galoppierte das ruhige Tier im strammen Galopp davon und sprang mit einem gigantischen Satz ins Meer. Europa blieb nichts anderes übrig, als sich an seinen Hörnern festzuklammern, sonst wäre sie von den Wellen erfasst und ertrunken. Der Stier schwamm durchs Mittelmeer bis zur Insel Kreta. Dort, unter einer Platane, offenbarte sich der Stier als Göttervater Zeus. Er hatte sich in einen Stier verwandelt, um den eifersüchtigen Blicken seiner Gattin Hera zu entkommen.

Zeus und Europa schliefen miteinander, am Fuße der Platane, die seither nie wieder ihre Blätter verloren hat. Neun Monate später gebar Europa drei Söhne. Der bekannteste von ihnen war Minos, der spätere König von Kreta und Namensgeber für die minoische Zeit (2.600 bis 1450 v. Chr.).

Europa Heute

Die Königstocher Europa dagegen wurde Namensgeberin für einen ganzen Kontinent: Europa.

Ihre Geschichte wird seit jeher unterschiedlich interpretiert. Wurde sie entführt und vergewaltigt? Oder hat sie sich in Zeus verliebt – den sanften Stier – sich willig mit ihm vereint und so zu Herrscherin von Kreta aufgeschwungen? Das Bild von Europa taucht heute an vielen Stellen auf, u.a. auf Euro-Geldscheinen. Die mythische Gestalt ist zur Personifikation des Kontinents geworden – und auch hier wandelt sich das Bild, je nach politischer Lage, wie drei Spiegel-Cover exemplarisch darstellen.

1996 sehen wir eine verängstigte Frau – Europa angesichts der Milliardenkosten für die Vernichtung von BSE-verseuchten Rinderherden

2000 ist Europa eine selbstbewusste Frau mit wehendem Haar – der Stier fälschlicherweise schwarz – guckt etwas bedröppelt rein: Europa ist neue Wirtschaftsmacht

Und 2004 schließlich entblößt Europa ihre Brüste. Dabei steht gar nicht die nackte Frau im Fokus, sondern der starke Stier auf dem sie reitet und der an diesem Tag etwas dicker geworden ist: 10 weitere Nationen treten der EU bei.

Infobox

Neben der Sex-Platane gibt es in der Ausgrabungsstätte von Gortyn aber auch noch andere historische Funde: In einer Mauer eingeritzt findet man zum Beispiel den ältesten Gesetzescodex Europas (dem Kontinent)
Gortyn ist etwa eine Autostunde von Heraklion entfernt. Gegen Eintritt kann man die Ausgrabungsstätte besichtigen, Baum und Kodex bestaunen. Allerdings ist Gortyn eine historische Stadt mit wenig Schildern. Wer sich nicht mit Archäologie auskennt, muss rätselraten, welcher Steinhaufen mal was gewesen ist. Aber immerhin: Unter dem Blätterdach dieser immergrünen Platane hat angeblich die europäische Geschichte ihren Anfang genommen.


Quellen

Europa. Museum-Joanneum. Abgerufen am 12.04.2023 von https://www.museum-joanneum.at/archaeologiemuseum-schloss-eggenberg/sammlungen/mythen/europa

Antikes Gortys – Sehenswürdigkeiten im Süden von Kreta. Kretareise.info. Abgerufen am 12.04.2023 von https://kretareise.info/antikes-gortys-sehenswurdigkeit-kreta

Elena Kontoyorgaki. Die archäologische Ausgrabungsstätte von Gortys in Zentral Kreta. Exploecrete. Abgerufen am 12.04.2023 von https://www.explorecrete.com/german/gortys-de.html