
Meisterdetektiv Sherlock Holmes hat ein phänomenales Gedächtnis – er kann sich alles merken, was er einmal gesehen, gehört oder gelesen hat. Sein Trick: Der Gedächtnispalast. Diese Mnemotechnik ist eine uralte Methode – erfunden haben es die alten Griechen.
So funktionier’s
Unser Gedächtnis funktioniert am besten in Bildern. Wer sich etwas merken will, legt die Information deshalb visuell in einem Raum ab. Das erfolgt in drei Schritten, am Beispiel der griechischen Götterfamilie:
- Das Wissen, das man sich merken will, wird strukturiert: welche Götter gibt es, wie sind sie verwandt miteinander, was sind ihre Fähigkeiten?
- Anschließend wird das Wissen verbildlicht, zum Beispiel durch einen Stammbaum, der an die Wand gemalt wird.
- Schließlich manifestiert man das Wissen, indem man sich den Raum detailliert ausmalt: Musik, besondere Raumfarben, ein einfallender Sonnenstrahl.
Um das gespeicherte Wissen abzurufen, spaziere ich durch meinen Gedächtnispalast. Ich laufe den Flur entlang, die erste Tür rechts, und schon stehe ich im Raum der griechischen Götterfamilie. Hier hängt mein Stammbaum, ich schaue ihn an und sehe, dass die Titanin Mnemosyne die Tante von Zeus war.
Das personifizierte Gedächtnis
Die alten Griechen haben wenig aufgeschrieben. Papier war teuer und verpönt: Nur gemerktes Wissen galt als echtes Wissen. Geschichten, Philosophie und Gesetze wurden mündlich überliefert. Das Gedächtnis spielte eine immense Rolle – kein Wunder, dass es durch eine eigene Göttin versinnbildlicht wurde: Mnemosyne. Sie war die Mutter der Musen. Denn Erinnerung ist der Ursprung von Kunst und Kreativität.
Auch Dichter hatten keine Chance, ihre Verse zu verschriftlichen – sie mussten sich alles merken. Deshalb war es auch ein Dichter, der auf die Methode des Gedächtnispalastes kam.
Ein Dichter wird bezahlt
Der Lyriker Simonides von Ceos lebte ca. 500 v. Chr. Eines Tages war zu einem Festbankett geladen, um ein Gedicht zu Ehren des Hausherrn zu halten. Simonides kam dem Auftrag aber nur zur Hälfte nach, denn einen guten Teil seines Gedichts handelte stattdessen von den Götter-Zwillingen Kastor und Pollux. Der Herr war darüber empört und schnauzte Simonides an, dass er ihm nur die Hälfte des vereinbarten Preises bezahlen werde – die andere Hälfte sollte Simonides sich von den Zwillingen einfordern!
Simonides nahm es mit Humor, trank ein Glas Wein und unterhielt sich prächtig auf dem Bankett. Da kam ein Bedienter zu ihm und sagte, draußen erwarteten ihn zwei junge Männer. Simonides trat neugierig vor die Tür, aber es stand niemand da. Der Dichter blickte sich suchend um, als plötzlich ein lautes Krachen ertönte und das Dach des Hauses hinter ihm zusammenstürzte! Die Gäste und der Hausherr, die eben noch ausgelassen feierten, wurde allesamt von den Trümmern erschlagen. Die göttlichen Zwillinge aber hatten Simonides gerettet und ihm seine Lob-Hymne mit dem Leben bezahlt.
Unter den Trümmern ein Palast
Als man den Schutt zur Seite räumte, kamen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichname zum Vorschein. Wie sollte man die Leichen identifizieren und ordnungsgemäß bestatten?
Simonides wusste es! Er hatte eine visuelle Erinnerung daran, wo jeder einzelne Gast an der Festtafel gesessen hatte. Dieses visuelle Bild von der Festtafel ermöglichte es ihm, sich an jeden Gast zu erinnern. So bemerkte Simonides, wie viel leichter es fällt, sich an etwas zu erinnern, dass man sich räumlich eingeprägt hat – und erfand den Gedächtnispalast.
Quellen
2021, 12. Oktober. Verbessern Sie Ihr Gedächtnis mit dieser altgriechischen Erinnerungstechnik. Ancient Origins. Abgerufen am 26.12.2022 von https://www.ancient-origins.de/mythen-europa/gedaechtnis-007323
Loci-Methode. Wikipedia. Abgerufen am 26.12.2022 von https://de.wikipedia.org/wiki/Loci-Methode#Mutma%C3%9Flicher_Ursprung
Lexikon > Mnemotechnik. Psychologen.at. Abgerufen am 26.12.2022 von https://www.psychologen.at/lexikon/mnemotechnik
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