
Obwohl sie gute Startbedingungen haben in Deutschland, und obwohl ihr Land noch immer im Krieg versinkt, kehren tausende Ukrainer*innen jeden Tag zurück in ihr Heimatland. Wie Odysseus. Was vor 3.000 Jahren galt, gilt auch heute noch: Wir wollen nach Hause.
Die Odyssee von Homer ist ein meisterhaftes Epos. In einer fortlaufenden Reihe greift die Rote Karotte einzelne Aspekte daraus auf und setzt sie in Bezug zu den Fluchten des 21. Jahrhunderts. Heute: „Heimweh“
Ukrainer*innen kehren zurück
Am Berliner Omnibusbahnhof bildet sich eine Menschenblase vor dem Bus nach Kiew. Er ist ausgebucht. An diesem Tag fahren 16 Busse in die ukrainische Hauptstadt – und alle sind nahezu voll. 16 Stunden dauert die Fahrt und für die meisten geht die Reise danach noch weiter.
Jeden Tag kehren rund 20.000 Menschen an der polnischen Grenze zurück in ihr Heimatland, in die Ukraine, ins Kriegsgebiet. Das Ankommen ist ungewiss: Steht das Haus noch oder ist es zerstört? Leben die Nachbarn noch?
Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR warnt ausdrücklich vor einer Heimreise, die Ukraine sei nach wie vor kein sicherer Ort. Ein Bild, das sich auch in den deutschen Medien eindeutig transportiert: Zerstörte Häuser, tote Zivilisten, umkämpfte Städte. Warum kehren jeden Tag tausende Menschen zurück in die Ukraine?
Fern ab der Heimat
Im fünften Buch der Odyssee strandet der griechische Held auf Ogygia. Die Insel wird bewohnt von der wunderschönen Meeresgöttin Kalypso. Aber obwohl die schöne Göttin Odysseus liebt und ihm ein Leben wie im Paradis beschert, ist der gestrandete Held nicht glücklich. Er hat Heimweh:
„Weinend saß er am Ufer des Meeres. Dort saß er gewöhnlich,
Und zerquälte sein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern,
Und durchschaute mit Tränen die große Wüste des Meeres.“
Homer. Odyssee, Buch 5, Vers 82-84

Zurück ins Grauen
Um Odysseus auf der Insel zu halten, macht Kalypso ihrem Geliebten das ultimative Versprechen: Unsterblichkeit. Wenn er bei ihr bleibt, wird er ewig jung und schön sein, niemals sterben. Odysseus kennt das Grauen des Todes gut: Seine Irrfahren haben ihn in die Unterwelt geführt. Dennoch entscheidet er sich gegen das ewige Leben, denn sein Heimweh, die Sehnsucht nach seiner Familie und seinem Zuhause sind stärker. Auch wenn er sich damit früher oder später für den Tod entscheidet – Odysseus will zurückkehren nach Ithaka.
Das Heimweh ist stärker als die Angst.
Was brauchst du?
Schweren Herzens akzeptiert Kalypso die Entscheidung ihres Geliebten. Ähnlich wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die über den Rückstrom der Ukrainer*innen sagte, sie könne „nachvollziehen, dass sie zum Zwecke der Familienzusammenführung wieder zurückgehen, obwohl einem das wirklich das Herz bricht.“
Ehe sie ihren Geliebten ziehen lässt, beweist Kalypso noch einmal göttliche Größe und stattet Odysseus mit allem aus, was er für seine lange Heimreise braucht:
Siehe dann will ich dir Brot und Wasser reichen
Und roten Herzerfreuenden Wein
Damit dich der Hunger nicht töte;
Dich mit Kleidern umhüllen und günstige Winde dir senden;
Dass du ohne Gefahr die Heimat wieder erreichst.
Homer. Odyssee, Buch 5, Vers 165-168
Odysseus baut sich ein Floß und wagt sich allein auf das offene Meer, ausgestattet mit nichts weiter als Wein, Brot, Kleidern und günstigen Winden. Vor allem aber trägt ihn eine Hoffnung über das Meer: Die Heimat wieder erreichen.
Quellen
Homer, Odyssee. 5. Gesang. Abgerufen am 14.06.2022 von https://www.gottwein.de/Grie/hom/od05de.php
Anna Klöpper, 2022, 20. April. Zurück nach Kiew. Taz. Abgerufen am 14.06.2022 von https://taz.de/Rueckkehrerinnen-in-die-Ukraine/!5849590/
Mona Botros und Claudia Kaffanke. 2022, 07. Juni. Warum viele Ukrainer Deutschland verlassen. Tagesschau. Abgerufen am 14.06.2022 von https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/ukraine-gefluechtete-117.html
2022, 29. April. Weniger Einreisen – mehr Rückkehrer. Tagesschau. Abgerufen am 14.06.2022 von https://www.tagesschau.de/inland/gefluechtete-ukraine-faeser-101.html
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