Heute sind 100 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – sie verlassen ihre Heimat, um zu überleben und Krieg, Gewalt und Verfolgung zu entkommen.

Vor 3.000 Jahren machte sich der berühmteste Held des antiken Griechenlands auf den langen Heimweg nach Ithaka – und erlebt damit die erste Fluchtgeschichte aller Zeiten.

Die Odyssee von Homer ist ein meisterhaftes Epos. In einer fortlaufenden Reihe greift die Rote Karotte einzelne Aspekte daraus auf und setzt sie in Bezug zu den Fluchten des 21. Jahrhunderts. Heute: „Ihr seid nicht Willkommen!“

Klare Regeln…

Schon im antiken Griechenland gab es ein Asylrecht: Wer als Flüchtling an Land kommt und Hilfe ersucht, dem muss sie gewährt werden. Die Götter geboten eine gastliche Aufnahme und den Schutz der Fremden. Göttervater Zeus selbst war Schutzpatron all jener, die fliehen mussten. Schutz und Recht der Geflüchteten war also ein göttliches Gebot.

In der der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und 1967 haben sich auch die Staaten der UN dazu verpflichtet, dass Asyl ein Grundrecht ist – nicht göttlich, aber rechtlich bindend.

… an die sich keiner hält

Aber weder damals noch heute wird der Mensch seinen eigenen Ansprüchen gerecht. Die Angst vor dem Fremden ist zu groß: Als Odysseus nach einem Sturm an Land gespült wird, begrüßt ihn der Kyklop Polyphem mit Abneigung:

Fremde, wer seid ihr? Von woher segelt ihr über nasse Pfade? Geht ihr einem Geschäft nach oder irrt ihr aufs Geratewohl wie Räuber übers Meer, die umherschweifen und ihr Lebens aufs Spiel setzen, indem sie Fremden Übles bringen?

Odyssee, Buch 9, Homer

Die Einheimischen Kyklopen unterstellen Odysseus böse Absichten– er sei mindestes auf Irrwegen, vielleicht sogar ein böswilliger Räuber? Die Skepsis vor dem Fremden ist groß, sie verleitet zu Vorurteilen, Hass und schließlich Grausamkeiten: Die Kyklopen fressen die Gefährten von Odysseus einen nach dem anderen auf.

Zumindest kannibalistisch geht es heute nicht mehr zu. Dennoch erleben viele Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, dass sie nicht willkommen sind: Sie warten jahrelang auf einen gesicherten Aufenthaltsstatus, sie dürfen nicht arbeiten oder zur Schule gehen. Sie erleben Rassismus bei der Wohnungssuche, der Berufsauswahl und vor allem in ihrem Alltag.

Egoismus vor Gesetz

Die Kyklopen setzen sich über göttliches Recht hinweg. Polyphem rechtfertigt das damit, dass er keine Angst vor Zeus hat und weder den Gott noch sein Asylrecht, respektiert:

Und ich dürfte wohl kaum aus Scheu vor Zeus‘ Feindschaft Schonung gewähren, weder dir noch den Gefährten, wenn nicht das Gemüt es mir befielt.

Odyssee, Buch 9, Homer

Die Kyklopen halten sich nicht ans göttliche Gebot, weil sie keine Konsequenzen fürchten. Stattdessen folgen sie ihrem eigenen Gemüt. Auch EU-Staaten setzen sich über die europäischen Flüchtlingskonventionen hinweg – so tauchen immer wieder Berichte über illegale Pushbacks an den europäischen Grenzen auf – bisher ohne weitreichende Konsequenzen für die Länder.

Ich bin „niemand“

Als Odysseus gefragt wird, wer er sei, stellt er sich als „oútis“ vor, was so viel bedeutet wie „niemand“. Dieses einfache Wort veranschaulicht die Misere von Millionen Geflüchteten: Sie kommen in der Fremde an und sind „niemand“. Eine Zahl, die im System registriert und zugeordnet werden muss. Kein Mensch, kein Leben dahinter wird gesehen. Der Geflüchtete ist in dem Land, indem er um Hilfe bittet, zunächst einmal: „niemand“.


Quellen

2021, 15. März. Was macht die EU? Tagesschau. Abgerufen am 29.05.2022 von https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eukommission-frontex-pushbacks-101.html

Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. Abgerufen am 29.05.2022 von https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansicht.pdf

2022, 23. Mai. Erstmals mehr als 100 Millionen Flüchtlinge. Tagesschau. Abgerufen am 29.05.2022 von https://www.tagesschau.de/ausland/europa/un-fluechtlinge-100-millionen-101.html

Miachel P. Schmude. Fremdheit und Migration in Homers Odyssee und Vergils Aenis. Abgerufen am 29.05.2022 von https://www.pthv.de/fileadmin/user_upload/2018/Presse/Materialien_download/Flucht__Fremdheit_und_Migration.pdf

Homer, Odyssee. Abgerufen am 29.05.2022 von https://www.projekt-gutenberg.org/homer/odyss21/odyss21.html