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DER ROTEN KAROTTE

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Beim Lesen erfährst Du spannende Hintergründe über das aktuelle Weltgeschehen und lernst ganz nebenbei ziemlich viel über die griechische Mythologie.
Ich wünsche Dir viel Spaß beim Stöbern, Lesen und Lernen!

Weniger Aufregen, mehr Streiten

Ein Gedankenexperiment aus dem Philosophie-Schulbuch „Zugänge zur Philosophie“ löst einen Shitstorm in den sozialen Medien aus. Was ist die philosophische Dimension hinter dem Fallbeispiel und warum brauchen wir Streit?

Rassismus-Debatte statt Philosophie Unterricht

„Ein türkischer Familienvater…“ beginnt ein Fallbeispiel, das seit Jahrzehnten im Philosophieunterricht der Oberstufen diskutiert wird. So auch vor einigen Wochen in einem Siegburger Gymnasium. Die Diskussion war anregend, anschließend landet das Beispiel im Netz… Und ein Shitstorm bricht los.

Das Fallbeispiel, in dem ein türkischer Vater seine Tochter gegen ihren Willen verheiratet, um seinen Neffen vor einer Abschiebung zu schützen, sei rassistisch. Die Aufgabenstellung sei vorurteilsbelastet und klischeehaft. Türkische Eltern, Eltern allgemein und viele andere Twitter-Nutzer sind sauer.

Politisch, didaktisch und gesellschaftlich wird das Beispiel heftig diskutiert. Aber die Debatte hat auch eine philosophische Dimension, die wir genauer beleuchten wollen.

Fallbeispiele: Extrem und Lebensnah

Philosophische Fallbeispiele lieben das Extrem. Einerseits und andererseits werden scharf gezeichnet: Einerseits: Der Familienvater will seinen Neffen vor der Abschiebung schützen und ihm ein Leben in Deutschland ermöglichen. Seine Absichten sind zweifelsohne ehrenhaft. Und andererseits: Um dieses Ziel zu erreichen, will er seine Tochter zur Ehe mit dem Neffen zwingen. Voila: Ein moralisches Dilemma.

Ein gutes Fallbeispiel ist ein konkretes und lebensnahes Fallbeispiel. Natürlich könnte es auch ein Alien sein, der vor diesem Konflikt steht. Aber Fallbeispiele leben davon, dass wir uns in die Situation hineinversetzen können. Umso realistischer das Dilemma, desto besser lässt sich darüber diskutieren.

Kein Kontext in den sozialen Medien

Das Fallbeispiel in dem Lehrbuch soll die Debatte zwischen Universalismus und Kulturrelativismus deutlich machen.

Die kulturrelativistische Theorie sagt, dass Werte und Normen abhängig von der jeweiligen Kultur sind: In einer Kultur gilt jenes als gut, in einer anderen dieses. In einer Kultur ist die Zwangsehe moralisch vertretbar, in einer anderen nicht. Wichtigster Vertreter war Paul Feyerabend.

Die universalistische Theorie hingegen streitet dafür, dass es universelle Werte gibt, die unabhängig von Herkunft und Kultur für jeden Menschen selbstverständlich gelten. Zum Beispiel das Tötungsverbot.

Was ist richtig und was ist falsch?

Der Streit zwischen den Theorien ist komplex: Einerseits, wenn wir die Werte von anderen Kulturen einfach akzeptieren, hieße das auch, dass wir uns nicht gegen Gräueltaten wie Sklaverei oder Genitalverstümmelung einsetzen dürften. Universelle Menschenrechte wären hinfällig.

Anderseits, wenn wir die Wertevorstellungen anderer Kulturen nicht akzeptieren, hieße das auch, dass wir unsere eigene Kultur als universell richtig setzen und uns anmaßen, unsere eigenen Werte allen anderen aufzudrücken – Stichwort Kolonialismus.

Eine Debatte braucht Konflikte

Um diese Debatte zu führen, braucht es einen Konflikt. Dilemmata lassen sich nur im Streit und Grenzfall erörtern. Fallbeispiele müssen ein bisschen wehtun, damit wir uns an ihnen reiben und abarbeiten können.

Im gleichen Lehrbuch gibt es zahlreiche weitere Fallbeispiele. Auch ein deutsches Klischee wird bedient: Es geht darum, dass Deutsche ihre Eltern in Pflegeheimen abgegeben, anstatt liebevoll Zuhause zu pflegen. In der deutschen Gesellschaft ist das üblich, anderswo gilt das als kaltherzig und moralisch verwerflich.

Um eine Debatte zwischen Kulturrelativismus und Universalismus anschaulich zu führen, müssen kulturelle Klischees bedient werden. Nur so kann der Wertekonflikt zwischen verschiedenen Kulturen aufgeworfen werden.

Wenn wir uns jeder Zuschreibung verwahren, können wir uns auch die ganze Debatte sparen – und klammern damit eine relevante ethische Fragestellung aus.

Fazit

Der reine Text bietet Angriffsfläche für den Rassismus-Vorwurf. Aber der Text ist eingebettet in ein Schulbuch, in ein Klassenzimmer und eine Diskussionsrunde. Die sozialen Medien haben das Beispiel aus diesem Schutzraum herausgerissen und ohne Kontext in den digitalen Orbis geworfen. Mit heftigen Auswirkungen:

Die Schule entschuldigt sich in aller Förmlichkeit und lädt türkische Eltern zum klärenden Gespräch ein. Das Schulministerium kündigt an, das Lehrbuch zu überprüfen. Und der Verlag will im vorauseilenden Gehorsam direkt eine neue Version drucken. Zum Schutz der Schüler*innen heißt es. Aber Schüler*innen schützt man vor allem, in dem man einen freien Diskussionsraum ermöglicht.


Quellen

2022, 09. Mai. Unbefangen? Diskussionen über interkulturelle Konflikte. WDR 5 Das philosophische Radio. Abgerufen am 15.05.2022 von https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/philosophisches-radio/matthias-schulze-100.html

2022, 16. Februar. Cornelsen überarbeitet Schulbuch. Börsenblatt. Abgerufen am 15.05.2022 von https://www.boersenblatt.net/news/verlage-news/cornelsen-ueberarbeitet-schulbuch-227149

2022, 14. Februar. Nach Rassismus-Vorwurf: Ministerium bemängelt Schulbuch als diskriminierend. WDR. Abgerufen am 15.05.2022 von https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/siegburg-schulbuch-ethik-diskussion-100.html

2022, 14. Februar. Rassismusvorwürfe: Türkischstämmige Eltern empört über Aufgabe eines Gymnasiums. RND. Abgerufen am 15.05.2022 von https://www.rnd.de/panorama/rassismus-tuerkischstaemmige-eltern-empoert-ueber-aufgabe-eines-gymnasiums-in-siegburg-NADK4YLPJ5OHNLUOVD3LVWCZEE.html

1 Kommentar

  1. Flix

    Sehr schön eingeordnet. Ohne Kontext wirkt das Beispiel tatsächlich vorurteilsbelastet. Solche Beispiele sollte man im Hinterkopf haben bevor man sich Online sofort und ohne Zögern empört.

    Vielen Dank Karotte!

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