Es fing so vielversprechend an: Kassandra war die Tochter des trojanischen Königs und außerdem wunderschön. So schön, dass sich der mächtige Apollon in sie verliebte und um ihre Gunst warb. Er war, so beschreibt es der Schriftsteller Aischylos, „entbrannt von Liebessehen“. Und wenn ein Gott verliebt ist, dann gibt es keine Blumensträuße oder Pralinen, sondern ein außergewöhnliches Geschenk: Apollon schenkte Kassandra die Sehergabe.

Aber diese wunderschöne junge Frau täuschte den Gott: Sie machte ihm schöne Augen, nahm sein großzügiges Geschenk an, und wies ihn dann zurück. Apollon war außer sich vor Zorn und ersann eine grausame Bestrafung: Kassandra konnte zwar nach wie vor die Zukunft voraussehen, aber niemand hörte auf ihre Weissagungen:

„Mir glaubte niemand nimmer“

Aischylos, Agamamnon

Drei tragische Ereignisse – die man hätte verhindern können

Die Tragik dieser Bestrafung wird an drei Beispielen deutlich:

Erstens: Kassandra lebte zu der Zeit in Troja, als die Stadt von den Griechen belagert wurde. Sie sah voraus, dass das trojanische Pferd eine Falle war. Sie warnte ihren Vater, den König, und ihre Brüder, deutlich: In diesem Pferd sind griechische Soldaten, wenn ihr es in die Stadt holt, wird Troja brennen. Aber niemand glaubte ihr.

Zweitens: Nach der Niederlage von Troja wurde Kassandra vergewaltigt und versklavt. Der König Agamemnon nahm sie mit sich. Und obwohl Kassandra ihren neuen Meister davor warnte, dass dieser von seiner Frau erdolcht werden würde, wenn er heimkehrt, tat er genau das – und wurde erdolcht.

Drittens: Auch ihren eigenen Tod sah Kassandra voraus. Sie verkündete ihn, aber machte sich schon nicht mehr die Mühe, irgendjemanden davor zu warnen. Sie wusste, dass sie ihr Schicksal nicht ändern kann, obwohl sie es voraussieht.

Die Tragik

In dem Drama Agamemnon resigniert Kassandra über ihr Schicksal:

„Beweifel meine Worte, wer da will! Was tut’s

Es tagt die Zukunft! Selber schaust du baldigst es

Und nennst mich jammernd allzuwahre Seherin!“

Aischylos, Agamemnon

Sie wusste, dass niemand ihr Glauben schenkte. Dennoch versuchte sie immer wieder, die Menschen zu warnen – erfolglos. Erst wenn die Zukunft, die sie voraussagte, tatsächlich eintrat, erkannten alle, dass sie eine „allzuwahre Seherin“ war.

Auch die Wissenschaft warnt

Vor einigen Tagen hat Chef des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler geklagt:

„Das ist eine klare Sprache, aber ich kann es nach 21 Monaten auch schlichtweg nicht mehr ertragen, dass es vielleicht nicht erkannt iwrd, was ich […] sage […].“

Lothar Wieler

Wissenschaftler*innen mahnen und warnen vor einer Zukunft, die sie seit Wochen klar prognostizieren: Anfang September warnte Wieler vor einem „fulminanten Lauf“ der vierten Welle. Direkt zum Start der Impfkampagne im Frühjahr 2021 forderte der Virologe Christian Drosten, dass es Booster-Impfungen brauchen wird. Und im Sommer kündigte der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach an, dass es Impfdurchbrüche geben wird und 3G nicht genug Schutz sei.

Reaktion auf Warnungen – Damals wie Heute

Aber die Reaktionen auf diese Warnungen ähneln denen, die auch der Chor in Aischylos Stück auf Kassandra zeigt: Entweder, die Prophezeiungen werden direkt abgelehnt:

„Prophezeiungen sind uns nicht genehm!“

Aischylos, Agamemnon

Und Kassandra wird aufgefordert, still zu sein:

„Unselige, schließe deinen unheilvollen Mund!“

Aischylos, Agamemnon

Oder aber die mahnenden Worte werden gar nicht verstanden:

„Noch nicht begreif ich’s“ singt der Chor, „Nimmermehr durchdringt der Blick der rätselhaften Sehersprüche Nebelflor.“

Aischylos, Agamemnon

Quellen

Aischylos, Agamemnon. Abgerufen am 21.11.2021 von https://www.gottwein.de/Grie/aischy/ag0001de.php

2021, 18. November. Wieler: „Die Prognosen sind superdüster“. Zdf heute. Abgerufen am 21.11.2021von https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-notlage-rki-chef-wieler-frust-ueber-politik-100.html

2021, 18. November. Es ist zum Heulen. Süddeutsche Zeitung. Abgerufen am 21.11.2021 von https://www.sueddeutsche.de/meinung/coronavirus-medizin-ungeimpfte-rki-lothar-wieler-pandemie-notlage-neuinfektionen-1.5467394

2021, 18. November. Corona: Die Wut der Wissenschaftler auf die Politik. Abgerufen am 21.11.2021 von https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/wdr-story-44077.html