Diese Geschichte geht auf Homer zurück – den ersten Schriftsteller aller Zeiten. In seiner Erzählung vom Trojanischen Krieg, der Illias, erwähnt Homer den Gott Okeanos. Um ihn soll es heute gehen.

Okeanos ist der „Ursprung von allem“, und zwar wirklich allem: Also auch der „Ursprung der Götter“. Er ist die mächtigste Urgestalt überhaupt – aber was ist seine Geschichte?

Okeanos ist in einer Person gleichermaßen Fluss und Gott, er ist ein Flussgott. Die griechische Mythologie arbeitet oft mit doppelten Identitäten. Die Götter sind zu komplex, als dass man sie auf eine Identität reduzieren könnte. (Die Christen haben das mit der Trinität auf die Spitze getrieben.)

Flussgötter

Okeanos war nicht der einzige Flussgott, bei Weitem nicht. Es gab (und gibt) viele Flussgötter auf unserer Erde – es gibt ja auch viele Flüsse. Flüsse, beziehungsweise die Flussgötter, besaßen unendliche Zeugungskraft, ein nie versiegender Strom. Deshalb badeten die Mädchen vor ihrer Hochzeit im Fluss, damit ein Hauch dieser unendlichen Fruchtbarkeit auf sie überginge. In manchen Erzählungen sind deshalb große Flüsse, zum Beispiel der Nil, Väter von wichtigen Stämmen: Der Fluss hat das jungfräuliche Mädchen befruchtet.

Ein Fluss konnte also Papa werden. Es ist eine passende Erzählung, wenn man sich die lebensspendende Kraft von Wasser vor Augen führt: Nahezu alle Städte entstanden am Ufer eines Flusses. Das war nicht nur günstig für Handelsrouten, sondern sicherte auch eine saubere Wasserversorgung – überlebenswichtig.

Erzeuger der Welt

Zurück zu Okeanos: Er war ein Flussgott wie so viele andere – aber er war der erste. Nicht nur der erste Flussgott, sondern der erste von allem: Aus Okeanos ist die Welt gezeugt worden. Sein ständiges, unendliches Strömen garantiert uns, dass die Welt auch noch morgen so existiert, wie sie es heute tut. Okeanos Strom speist alle Meere, alle Flüsse und spendet alles Leben, das darum entsteht.

Ein Kreislauf

Aber wo ist sein Ursprung? Wo ist die Quelle dieses unendlichen Flusses? Die Griechen wussten genau, dass es keinen Ort für den Anfang geben kann – denn erst NACH dem Anfang kann es überhaupt Orte geben. Okeanos hat die Welt geschaffen – dann kann er kein Teil dieser Welt sein, denn er war ja schon vor der Welt da. Die Lösung: Okeanos fließt im Kreis und ein Kreis hat bekanntlich keinen Anfang und kein Ende. Er fließt im Kreis um die Erdscheibe und hält sie so zusammen.

Die Mama der Welt

Die Frage an den Ursprung ist verknüpft mit der Frage nach dem Anfang: Warum und wie hat Okeanos die gezeugt? Ganz einfach: Er hat seine geliebte Gattin Tethys, die Mutter der Welt, befruchtet. Okeanos ist also nicht alleiniger Erzeuger von allem – er ist bloß Papa der Welt, Tethys hat sie ausgetragen.

Zu unserem Glück haben sich Tethys und Okeanos furchtbar zerstritten und reden seit einer Ewigkeit nicht mehr miteinander. Sie hassen sich so sehr, dass sie sich einander nicht einmal nähern. Deshalb kommen auch nicht ständig neue Welten-Babys dazu, sondern es bleibt bei diesem einen Kind, dass sich zwar ständig verändert (ewiger Fluss), aber nicht neu entsteht.